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Diese Woche vor einem Jahr: An der griechisch-türkischen Grenze öffnet die Festung EUropa ihre Schießscharrten 

Heute vor einem Jahr erreichten Özlem Alev Demirel und ich die griechisch-türkische Landgrenze nahe der türkischen Stadt Edirne. Dort eskalierten seit einigen Tagen die europäischen Abschottungsmechanismen gegenüber schutzsuchenden Menschen in gewaltsamen Ausschreitungen. Tage zuvor hatte der türkische Präsident Erdogan die türkische-griechische Grenze für geöffnet erklärt, woraufhin unzählige Menschen in der Hoffnung auf Ausbruch aus der Perspektivlosigkeit und Bedrohungslage in der Türkei in die Grenzregion zu Griechenland am Fluss Evros reisten.

Die EU ließ sich auf das Spiel Erdogans ein und beteiligte sich an der Instrumentalisierung von Menschen auf der Flucht. Sie wurden zum Spielball politischer Grabenkämpfe gemacht. Griechenland wurde zum „Schutzschild Europas“ und setzte dafür einen Monat lang das Asylrecht einfach aus. Die ausufernde Gewalt an der Grenze wurde von Frau von der Leyen und co. breit gelobt, umfangreiche Ausrüstung und Frontex-Truppen in die Region geschickt. Nicht nur das Grenzgebiet wurde rasant militarisiert, auch die Rhetorik strotze nur so von militärischen Bildern und Narrativen. Schnell wurde deutlich, dass die Eskalation auch Todesopfer fordern wird. Mindestens zwei Menschen wurden in der Woche an der Landgrenze getötet, Muhammad al-Arab und Muhammad Gulzar. Alles deutet darauf hin, dass sie durch Schüsse aus den Waffen griechischer Grenzbeamt*innen starben – ob durch Gummikugeln oder scharfe Munition bleibt bis heute unklar. Unzählige berichteten uns durch den Einsatz von Schlagstöcken, Blend- und Rauchgranaten und Gummigeschossen verletzt worden zu sein. In der Grenzregion sah ich auf türkischer Seite unzählige Menschen mit Platzwunden am Kopf und anderen Verletzungen.  In der Ägäis feuerten Angehörige der griechischen Küstenwache derweil Schüsse in das Wasser vor Schlauchbooten voller Menschen ab und prügelten mit Stangen auf sie ein.

Die allgemeine Beschwörung der Gefahr durch die Flucht schutzsuchender Menschen und die eskalierende, gewaltgeladene Rhetorik führte sowohl an der griechisch-türkischen Landgrenze als auch auf den griechischen Ägäis-Inseln zu einer Enthemmung rechtsextremer Gewalt. Journalist*innen, NGO-Mitarbeiter*innen und geflüchtete Menschen wurden attackiert und gejagt, prügelnde selbsterklärte Bürgerwehren versuchten ankommende Geflüchtete zurück ins Meer zu stoßen und am Anlegen zu hindern, in der Grenzregion patrouillierten bewaffnete Nazi-Gruppen. Auch aus dem deutschsprachigen Raum reisten prominente Rechtsextreme an die Orte des Geschehens, um die Ereignisse in ihre migrationsfeindliche, rassistische Propaganda einzubinden. Das Bundesinnenministerium war wie immer angeblich ahnungslos und unternahm nichts gegen die Reiselust erklärt gewaltbereiter Nazis. 

Die Ereignisse im März letzten Jahres haben uns allen vor Augen geführt, wozu die EU in ihrem Abschottungswahn fähig ist. Erschreckend ist dabei auch, wie wenig Kritik an der Gewalt zu vernehmen war und wie breit die Zustimmung für das Vorgehen. Bis heute wurden die Todesfälle von Muhammad al-Arab und Muhammad Gulzar nicht aufgeklärt. Bis heute wurden die Menschenrechtsverstöße gegen die Geflüchteten an der griechisch-türkischen Grenze vor einem Jahr nicht aufgearbeitet, die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen. Bis heute gibt es noch immer keine legalen und sicheren Fluchtwege in die EU. Dieser Entwicklung müssen wir unsere gebündelten Kräfte entgegensetzen und Widerstand leisten gegen die Abwertung von Leben, gegen gewaltvolle Abschottung und die Zusammenarbeit von Staat und extremer Rechten.