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Absurde Ausmaße an Willkür und Ungerechtigkeit – Kriminalisierung und strafrechtliche Verfolgung geflüchteter Menschen

Das Abschottungssystem der Festung Europa bekämpft Migration und schutzsuchende Menschen auf allen Ebenen. Trotz der hartnäckigen Arbeit von Organisationen wie Borderline Europe ist ein recht wenig beachteter Aspekt die Kriminalisierung und extrem willkürliche strafrechtliche Verfolgung von Menschen, denen die Flucht nach Europa gelungen ist. Für jedes Boot mit fliehenden Menschen, das europäischen Boden erreicht, suchen sich die Behörden in Malta, Italien und Griechenland mindestens eine Person heraus, gegen die dann ein politischer Schauprozess wegen angeblicher „Beihilfe zur illegalen Einreise“ oder sogenannter „Schleuserei“ geführt und ein Exempel statuiert wird. So werden systematisch und willkürlich ganze Leben zerstört und Familien auseinandergerissen. Ziel dieser Kriminalisierung sind vor allem diejenigen, die auf den Booten meist zufällig irgendeine Form von aktiverer Rolle spielten, also etwa mitgebrachte Wasserflaschen verteilten oder aus der Not heraus den Außenbord-Motor bedienten. In den Prozessen spielt keine Rolle, ob diesen Menschen tatsächlich Beteiligung an der Organisation der Überfahrt nachgewiesen kann oder nicht, es reichen schon die unmittelbar nach dem Ankommen unter Schock und Erschöpfung abgegebenen Berichte von Mitreisenden oder vermeintliche Beobachtungen der Polizei im Hafen.

Ein Beispiel für diese wirklich himmelschreiend ungerechte und zynische Praxis ist die Verurteilung des 27-jährigen Mohamad H. zu 146 Jahren Haft (!) auf Lesbos am 13. Mai 2021. Mohamad H. hatte im Dezember 2020 mit 33 weiteren Menschen versucht von der Türkei mit einem Boot nach Griechenland zu fliehen. Als das Boot in Seenot geriet, versuchte er sich und die anderen Menschen zu retten und sie sicher an Land zu steuern. Das Boot kenterte und zwei Frauen starben. Mohamad H. wurde unmittelbar danach als “Fahrer” des Bootes identifiziert und des “Transports von Drittstaatsangehörigen ohne Einreiseerlaubnis in griechisches Hoheitsgebiet” (Schmuggel) angeklagt. Zusätzlich wird ihm die Gefährdung des Lebens von 31 Personen und der Verschuldung des Todes von zwei Personen vorgeworfen.

Ein weiterer Fall wird heute in Rom neu aufgerollt. Es geht um die vier jungen Männer Joma, Ali, Abdelrahman and Muhannad, die 2015 vor dem Krieg aus Libyen nach Italien flohen. Ihr Boot sank und 49 der mehr als 360 Menschen an Bord ertranken. Die vier wurden wegen angeblicher „Schleuserei“ zu je 30 Jahren Haft verurteilt, auch ihnen wird die Verantwortung für den Tod der Menschen zugeschoben. Ein „Beweis“ für den Vorwurf: Ali soll anderen Menschen eine Wasserflasche gegeben haben. Muhannad schreibt in einem Brief aus dem Gefängnis (frei übersetzt): „Die italienische Justiz hat mich fertiggemacht. Ich habe alles verloren, ich habe meinen Ehrgeiz verloren und ich habe meine Zukunft verloren. Ich habe meine Freundin verloren. (…) Ich will mich nicht im Gefängnis auch noch selbst verlieren. Ungerechtigkeit, wir sind Opfer von Rechtsmissbrauch.”

Das waren nur zwei von unzähligen Fällen dieser Art. Die EU, welche mit ihrer Politik Verantwortung für den Tod von mehr als 22.000 Menschen seit 2014 trägt, verfolgt die Überlebenden ihrer Politik und zerstört auch deren Biografien mit politisch motivierten Schauprozessen. Für so viel Ungerechtigkeit und Zynismus fehlen mir die Worte. Auch deshalb: Wir müssen uns weiter organisieren und dafür kämpfen, dass diesem System ein Ende gesetzt wird!